- Literaturnobelpreis 1983: William Gerald Golding
- Literaturnobelpreis 1983: William Gerald GoldingDer Brite erhielt den Nobelpreis für seine Romane, die »realistisch und zugleich mit der vieldeutigen Allgemeingültigkeit des Mythos die Bedingungen menschlichen Lebens in der heutigen Welt beleuchten«.Sir (seit 1988) William Gerald Golding,* Saint Columb Minor (Cornwall) 19. 9. 1911, ✝ bei Falmouth (Cornwall) 19. 6. 1993; Studium der Biologie, später der englischen Literatur in Oxford, 1934 Studienabschluss, anschließend Tätigkeit als Autor und Schauspieler, 1938-60 Lehrer an verschiedenen Schulen, 1940-45 Dienst im Zweiten Weltkrieg bei der Marine, 1955 Mitglied der Königlichen Gesellschaft für Literatur.Würdigung der preisgekrönten LeistungAm Tag, als William Golding die Nachricht von der Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis erhielt, bekam er von zwei Polizisten einen Strafzettel. Der Ältere der beiden zeigte auf ein Feld des Formulars: »Hier sollen Sie Ihren Namen und Ihre Adresse eintragen. Stellen sie einen Scheck über zehn Pfund aus und stecken Sie ihn in einen Briefumschlag, versehen mit einer sechzehn Penny-Marke, die Sie bitte rechts oben auf den Umschlag kleben. Und übrigens herzlichen Glückwunsch zum Literaturnobelpreis.« Diese Anekdote, mit der Golding seine Dankesrede in Stockholm beendete, verrät einiges über den Charme und Witz jenes Mannes, von dem seine Kritiker sagen, er sei ein Lehrer durch und durch.Der WortesammlerIn der Tat gehört Golding in die Kategorie der analytisch bis ins Detail ihr Werk formenden Poeten, die im Schriftstellerdasein stets auch eine Verpflichtung zur Lehre sehen. Für seine Werke, die zwischen Fiktion und Allegorie angesiedelt sind, hat sich in der Sekundärliteratur längst die Bezeichnung »Fabel« durchgesetzt. Eine Quelle von Goldings Gelehrsamkeit war sicherlich der wissenschaftliche Humanismus seines Vaters, eines Lehrers an der Schule, die auch der junge William besuchte. Von seiner Rebellion gegen die optimistisch-rationalistische Menschen- und Weltsicht während seiner ihn prägenden Jahre künden das frühe Interesse an der griechischen Tragödie und der Fächerwechsel mitten im Studium an der Oxford University. Den ursprünglich angestrebten Abschluss in Molekularbiologie hatte ihm sein Vater nahe gelegt. Ein Hauptmotiv für die anschließende Hinwendung zur englischen Literatur war sicher auch die frühzeitige Faszination, die die Sprache auf ihn ausübte. Schon als Kind hat er angeblich Worte gesammelt wie andere Gleichaltrige Briefmarken.Die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, in dem Golding fünf Jahre lang bei der Marine diente, zerstörten vollends seinen Glauben an die Vervollkommnung des Menschen. Die Abgründe, mit denen ihn der Krieg konfrontierte, motivierten ihn, der bereits als kleiner Junge Dichter werden wollte, zu seinem bis heute unerreichten Roman »Herr der Fliegen«, den viele noch immer zu den besten Büchern des 20. Jahrhunderts zählen. Diese schwarze Parabel, die 1954 erschien, nachdem sie zunächst von zahlreichen Verlagen abgelehnt worden war, schlug Generationen in ihren Bann.»Herr der Fliegen«Golding schildert darin das Schicksal einer Gruppe von Schuljungen, die als einzige den Absturz eines Flugzeugs überlebt haben, das sie vor dem Atomkrieg in Sicherheit bringen sollte. Auf einer unbewohnten Insel mitten im Pazifik wird der verständige Ralph zum Anführer der Gruppe. Den demokratischen Prinzipien, die Ralph verkündet, beugt sich zunächst auch Jack, der herrschsüchtige Befehlshaber eines Knabenchors. Doch bald beginnt er, sich Ralphs Befehlen zu widersetzen. Auf der Jagd ergreift ihn und seine Anhänger immer stärker die Freude am Töten. Schließlich ermorden sie Simon und Piggy, Ralphs letzte Gefährten, und machen auch Jagd auf ihn. Als Soldaten der englischen Marine auf die inzwischen brennende Insel kommen, retten sie damit auch Ralphs Leben.Golding selbst bezeichnete »Herr der Fliegen« als Versuch, »die Gebrechen der Gesellschaft auf die Gebrechen der menschlichen Natur zurückzuführen«. Goldings Schlussfolgerung ist demnach, dass der Zustand einer Gesellschaft vom sittlichen Bewusstsein des Einzelnen abhänge und »nicht von irgendeinem politischen System, mag es noch so logisch und ehrbar erscheinen«.Die Erzählung ist in jedem Fall eine Allegorie auf die westliche Zivilisation des 20. Jahrhunderts, die weder vor dem Rückfall in die Barbarei noch vor der Unterwerfung unter Diktatoren sicher war.Freiheit der GefallenenNeben »Herr der Fliegen« hat vor allem sein 1980 erschienener Roman »Äquatortaufe« die Kritik begeistert und mit den Ausschlag für die Verleihung des Nobelpreises gegeben. In diesem Werk, für das Golding den renommierten Booker-Preis erhielt und das monatelang auf den britischen Bestsellerlisten stand, verbindet sich das Grundmuster des Reise- und Seeromans mit Elementen der Gesellschaftssatire und Parodie. Als Erzähler und Protagonist fungiert dabei ein junger englischer Snob namens Edmund Talbot, der im Auftrag seines aristokratischen Gönners Tagebuch führt über seine Schiffsreise nach Australien, wo er sich als Kolonialbeamter eine große Karriere erhofft.Das Buch spielt in der Zeit nach den Napoleonischen Kriegen in einem alten, notdürftig umgebauten Kriegsschiff, auf dem nicht nur Vieh, sondern auch bunt zusammengewürfelte Passagiere aus allen Schichten unterwegs sind. Das Schiff stellt einen Mikrokosmos dar und thematisiert die im nachrevolutionären Zeitalter ideengeschichtlichen Gegensätze von Vernunft und Gefühl, Ordnung und Freiheit. Die Welt des Schiffs ist dabei durch strenge Klassenunterschiede zwischen Offizieren und Mannschaften, Passagieren mit Kabinen auf der einen Seite und Emigranten auf der anderen ebenso geprägt wie durch Herkunft und bildungsbedingte Sprachgebung und andere gesellschaftliche Abstufungen. Bei aller komischen Gesellschaftssatire, die an Daniel Defoe, Henry Fielding und Jane Austen erinnert, stellt auch dieser Roman eine symbolträchtige und bildliche Reise durch die Erfahrung dar. Mit diesem unterhaltsamen Buch bewies Golding all jenen Kritikern, die ihn nach einigen schwächeren Werken bereits abgeschrieben hatten, dass dies ein Irrtum war und dass er auch eine bisher eher vernachlässigte Dimension, die Komik, meisterlich beherrschte. Das Nobelpreiskomitee hob die Parallelen zwischen Goldings Schriften und denen von Jonathan Swift und Herman Melville, sowohl was den klaren Blick auf die Abgründe der menschlichen Natur als auch die Thematik der Seefahrt und des Reiseromans betrifft, hervor. Häufig werden auch Goldings erzählerische Anleihen bei Fjodor Dostojewski und Joseph Conrad betont, mit denen er das feine Gespür für die menschliche Psychologie und die Abgründe der menschlichen Seele teile. Der obsessive Charakter seiner weitgehend pessimistischen Philosophie äußert sich vor allem darin, dass sein zentrales Thema meist mit dem Fall eines Hauptcharakters verbunden ist, der aus der Unschuld in die schmerzliche Erfahrung der vom Bösen durchdrungenen Wirklichkeit sinkt. Die oft behauptete Nähe Goldings zu den Existenzialisten erklärt sich denn auch aus dieser Freiheit der Gefallenen, das Böse nicht zu wollen und so einen Sinn zu setzen.M. Geckeler
Universal-Lexikon. 2012.